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Im Jahr 2024 war in meiner Beratungsarbeit mit Menschen, die im Bürgergeldbezug sind, immer wieder der digitale Kontakt mit dem Jobcenter Thema. Damals lief es über eine Anmeldung auf der Webseite jobcenter.digital. Die überwiegende Mehrzahl meiner Klienten hat keinen Computer, aber ein Handy. Meist wird das Handy nur zum Telefonieren, für Whatsapp, Bilder machen und im Internet surfen genutzt. Weiter- und tiefergehende digitale Kompetenzen sind nicht vorhanden und schwer erlernbar. Alle Klienten hatten bisher ihre Unterlagen als Kopien an das Jobcenter geschickt, vor Ort eingeworfen oder sogar zur Abgabe einen Termin vereinbart. Unterlagen, die in Papierform beim Jobcenter eingehen können nach Hotline-Angaben und Erfahrungen aus der Praxis gut fünf bis sieben Arbeitstage benötigen, bis sie im Computersystem des Jobcenters vorliegen. Ab da zählt auch die interne Bearbeitungsfrist. Mit Unterstützung und oft über mehrere Beratungsgespräche hinweg war es möglich, für meine Klienten einen Account bei jobcenter.digital anzulegen und eine scan-app zu installieren. Mit mehrfacher Übung und teils auch mit sehr kleinschrittiger Anleitung konnten manche ihren Lohnzettel auf diesem Weg eigenständig, direkt, sicher und nachweisbar an das Jobcenter schicken. Ich war begeistert. Andere brauchen dauerhaft Unterstützung, aber in der Beratungsarbeit nutzte ich diesen Kanal sehr gerne.
Leider kam dann Ende 2024 eine Veränderung, die aus meiner Sicht nicht nachzuvollziehen ist. Der Gebrauch des Postfachs bei jobcenter.digital und jetzt auch bei der Jobcenter-App wurde zwingend mit der Zustimmung zur vollständigen Digitalisierung aller Unterlagen verknüpft. Wer also dem Jobcenter Unterlagen digital senden will, muss nun zwangsweise alle Dokumente des Jobcenters digital entgegennehmen.
Ich schätze eine Vielzahl meiner Klienten so ein, dass sie Bescheide und Schreiben vom Amt in Papierform benötigen. Im Briefkasten wird der Eingang eines Schreibens wahrgenommen, Erinnerungsmail (dass sie Nachrichten im jobcenter.digital–Postfach haben) werden aber übersehen oder können technisch untergehen (Akku leer, Datenvolumen aufgebracht, Gerät kaputt…). Wenn Unterlagen haptisch vorliegen, ist es einfach bei Nichtverstehen oder Überforderung andere Menschen um Hilfe beim Lesen und Verstehen zu bitten. Papier ist da geduldiger und bleibt erst mal mahnend auf dem Tisch liegen. Dort lässt es sich auch einfach in Mappen ablegen, abheften oder samt Briefumschlag sauber gestapelt in der Schublade ablegen. Ein häufiges Ordnungssystem bei Klienten.
Es gibt Menschen, die können nur unzureichend mit Mail oder der Jobcenter-app umgehen. Das bedeutet, dass sie nicht regelmäßig Mails checken oder teils trotz vorhandener Mailadresse, dies gar nicht selbstständig abrufen können. Diese Menschen werden mit großer Wahrscheinlichkeit einen zugesandten Termin verpassen (sofortige Kürzung des Bürgergelds). Im Gegensatz dazu schauen sie jeden Tag in ihren Briefkasten.
Mitwirkungspflichten, Bescheide, Rückforderungen, viele Briefe erfordern eine Aktion. Sind diese Dokumente nur digital, so werden sie als unangenehme Aufgabe schneller und leichter zur Seite geschoben als ein tatsächlich vorhandener Brief. Vor allem, wenn die Erledigung der Aufgabe ja wiederum digitale Kompetenzen erfordert: Prüfe den Bescheid! Ich habe da keinen Überblick. Fülle den Anhörungsbogen aus! Ja, aber wie denn im Handy? Zeige den Bescheid vor! Ja, wo ist der denn abgespeichert?
Andere Ämter fordern Kopien des Jobcenterbescheids. Man muss ihn aus dem Handy heraus drucken, was bei einem eigenen PC mit Drucker möglich ist, aber nicht im Copyshop um die Ecke.
Die Arbeit in der Beratungsstelle wird ebenso erschwert. Will man den Bescheid kontrollieren ist er auf dem Handy unübersichtlich und sehr klein. Gerade in meiner Beratungsarbeit habe ich erklärende oder offene Punkte auf dem Bescheid notiert, um dem Klienten zu Hause die Überprüfung zu erleichtern. Dies ist nicht mehr möglich.
Manche Menschen mit wenig digitalem Verständnis haben Helfer in ihrem Umfeld, die ihnen ein Dokument hochladen oder eine Anfrage versenden können. Auf diese Weise können Betroffene den digitalen Zugangsweg nutzen. Der Empfang von wichtigen Dokumenten auf diesem Weg wäre allerdings eine Überforderung.
Erkläre ich meinen Klienten, dass der digitale Zugang inzwischen von Ihrer Zustimmung abhängt, dass das Jobcenter auf die postalische Zusendung von Briefe komplett verzichten darf, ist ihre Mei¬nung eindeutig. Sie wollen ihre Briefe weiterhin per Post bekommen und trotzdem jobcenter.digital nutzen, um Unterlagen zuverlässig, schnell und nachweisbar an das Jobcenter zu übermitteln. Da es ein Alles-Oder-Nichts-System ist, muss wieder auf den Postweg zurückgegriffen werden, mit seiner Unsicherheit und zeitlichen Verzögerung. So verliert übrigens auch das Jobcenter den Vorteil, den der digitale Zugang zunächst geschaffen hatte, dass nämlich Unterlagen sofort digital und für alle beteiligten Teams vorlagen.
Jeder sollte die freie Wahl haben, ob er über den digitalen Weg nur Unterlagen zusenden und Anfragen stellen möchte oder zusätzlich alle Unterlagen ausschließlich digital zugestellt bekommen möchte. Mit dieser Trennung würde man vielen Menschen im Bürgergeldbezug einen digitalen Zugang zum Jobcenter ermöglichen, ohne sie zu überfordern.
Was spricht dagegen, den digitalen Zugang zu ermöglichen und weiterhin bei Wunsch alle Briefe des Jobcenters per Post zu schicken?
Die Nutzung der App ist sicher für viele fitte Bürgergeldempfänger, besonders auch jüngere Menschen ein gutes Instrument. Durch die Verknüpfung der digitalen Zusendung aller Behördenkommunikation werden der allergrößte Teil meiner Klienten von dieser guten Möglichkeit ausgeschlossen. Eine verpasste Chance, auch für das Jobcenter.
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